Liebe Leser,
EZB-Chef Mario Draghi hat den Ernst der Lage offenbar nicht verstanden, ich bezweifle mittlerweile sogar, dass er das Problem der Liquiditätsfalle begriffen hat. In einem etwa 80 Jahre alten Buch steht geschrieben, dass in wirtschaftlichen Depressionszeiten neue Investitionsprojekte eine derart niedrige Ertragserwartung versprechen , dass „keine irgendwie durchführbare Senkung des Zinssatzes“ ein nennenswertes Investitionsvolumen auslösen kann. Nur durch eine „Rückkehr des Vertrauens“ und eine positive Perspektive in der Geschäftswelt kann die Investitionstätigkeit des Kapitals wiederbelebt werden. Ich sollte 1000 Exemplare von Keynes Meisterwerk kaufen und vor der EZB verteilen.
Ich frage Mario Draghi: Werden Industriekonzerne jetzt in Spanien investieren, nur weil der Leitzins 0,25% tiefer steht? Nein! Wird die Kapitalflucht großer Vermögen von italienischen Banken ein Ende finden, nur weil der Leitzins 0,25% tiefer steht? Nein! Was die Märkte brauchen ist Stabilität. Die EZB hätte sich ganz klar dazu bekennen müssen, den ESM mit Zentralbank-Geld zu kapitalisieren. Nur so kann er seinen neuen Aufgaben nachkommen, die auf dem EU-Gipfel beschlossen wurden. Es ist doch ein Drama, dass die einzige Institution, die über die Fähigkeit verfügt die Schuldenkrise sofort zu lösen, die Situation einfach nicht begreifen will. In 50 Jahren werden Historiker den Kopf schütteln, über die Begriffsstutzigkeit unserer derzeitigen Führungspersönlichkeiten. Dass die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 von einer falschen Geldpolitik maßgeblich ausgelöst wurde, ist heute unter Wirtschaftshistorikern akzeptiert. Es ist unverzeihlich, dass jetzt die gleichen Fehler wiederholt werden.
50% Jugendarbeitslosigkeit in Spanien. Das ist ein Verbrechen der Politiker an der eigenen Bevölkerung. Das erste Verbrechen besteht darin, nach sozialistischer Manier rigide Arbeitsmärkte ohne Kündigungsmöglichkeit zu schaffen. Unternehmen, die schrumpfen, aber nicht kündigen können, können keine neuen, qualifizierteren Kräfte einstellen. Uni-Absolventen leiden darunter genau so wie die Firmen selbst. Das zweite Verbrechen besteht darin, dass eine Erhöhung der aggregierten Nachfrage um etwa 10% das gesamte Problem sofort maßgeblich entschärfen könnte. Die EZB hätte – in richtiger Koordination mit der Politik – die Macht dazu, aber offenbar nicht den notwendigen Sachverstand.
Viele Grüße
Simon Betschinger