Liebe Leser,
hat sich Mr. Market jemals so weit aus dem Fenster gelehnt? Die Industrieproduktion in Deutschland stieg im Juli um 4,5% deutlich stärker als erwartet, Volkswirte rechneten im Durchschnitt nur mit einem Plus von 0,5%. Auch in anderen Bereichen des produzierenden Gewerbes stieg die Erzeugung deutlich an. An der Börse wird die Zukunft gehandelt, das wissen wir, aber kann es nicht sein, dass Mr. Market doch ein wenig übertreibt, wenn er die gesamte deutsche Industrielandschaft innerhalb kürzester Zeit im Boden versenkt? Das 2008er „Lehman Brothers Szenario“ wird von den Aktienkursen bereits fast so eskomptiert als wäre es bereits eingetreten. Leoni notierte gestern bei 23€ und damit 47% unter den Kursen von Mitte Juli. Der Analystenkonsens erwartete für 2012 bis vor kurzem einen Gewinn je Aktie im Bereich von 5€. Selbst wenn es jetzt noch einmal zu einer zyklischen Eintrübung kommen sollte, dann wird Leoni dieses Gewinnpotenzial eben ein Jahr später abrufen, es sei denn die Weltwirtschaft versinkt im Chaos, was uns der Markt momentan offenbar andeuten will.
Um auf ein Weltwirtschaftskrisen-Szenario vorbereitet zu sein, hatte ich mich letzte Woche intensiv auf die Suche nach Shortkandidaten im MDAX und DAX gemacht. Ich habe keine Aktien gefunden, die ich aus fundamentaler Sicht langfristig leerverkaufen würde. Mein Herz schlägt bei den aktuellen Bewertungen den Takt der Longspekulation. Warum sollte man eine Kloeckner & Co etwa bei 10€ noch shorten? Das macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die Welt ab 2012 sämtliche Industrie- und Bautätigkeiten einstellen wird und kein Mensch mehr Stahl benötigt. Mein Problem mit Shortseite ist, dass ich als Ökonom den Fahrplan kenne wie diese Krise gelöst werden kann. Es müsste eigentlich nur eine Frage der Zeit sein bis sich vernünftige Gedanken ihren Weg bis ins Bundeskanzleramt gebahnt haben. Dann wird Griechenland endlich eine richtige Umschuldung durchführen, die EZB wird Griechenland-Anleihen von Banken zum Beispiel zu 70% des Nominalwertes in ihre Bilanz aufnehmen und schon hätten wir das Griechenland-Problem gelöst, ohne Panik im Bankensektor auszulösen. Argentinien musste 2002 ebenfalls den Bankrott erklären. Seit 2003 verzeichnet die argentinische Wirtschaft jährlich hohe Wachstumsraten. Das Gleiche würde Griechenland mit einer angemessenen Schuldenlast gelingen.
Viele Grüße
Simon Betschinger