Liebe Leser,
sind die Börsen irrational? Aus Börsenmagazinen springt mir in großen Lettern die Aufforderung entgegen: „Irrationale Börse, ja nicht verkaufen, Aktien sind günstig.“ Es ist die einfachste aller Möglichkeiten, eine unerwartete Kursentwicklung zu kommentieren, indem man sie als ungerechtfertigt und irrational abtut. Aber die Wahrheit ist eine andere: Finanzmärkte sind nicht irrational, sie übertreiben gerne in die ein oder andere Richtung, aber von der Grundtendenz haben die Märkte fast immer Recht. In einen Aktienpreis fließen die Meinungen tausender von Marktteilnehmern mit ein. Die Aktien milliardenschwerer Finanzinstitute werden von Großinvestoren gehalten, die oft einen sehr guten Einblick in die Geschäftsaktivität haben. Wenn seit 4 Wochen Finanzaktien in ganz Europa auf Talfahrt gehen, dann muss die Frage lauten, was für Ursachen dahinter stecken. Auch Anfang 2008 als der DAX von 8000 auf 6000 Punkte einsackte, haben wir zuerst alle über diese Marktverwerfung gerätselt. Inzwischen wissen wir, dass die Eigenkapitaldecken der Banken extrem dünn waren und faule US-Immobilienkredite beinahe die gesamte Bankenlandschaft beerdigt hätten. Finanzmärkte bringen neue Fakten viel früher ans Licht als 99% aller Marktakteure. Sie sind eine Art kollektive Intelligenz.
Ich bin im Normalfall viel lieber Optimist als Pessimist, aber eine nüchterne Abwägung der Fakten bringt mich zum Ergebnis, dass ein Negativszenario für die Weltwirtschaft nicht augeschlossen werden kann. Viele negative Einzelfaktoren treffen zu einem ungünstigen Zeitpunkt aufeinander. Erstens ist die Eigenkapitalausstattung der Banken alles andere als solide. Zweitens haben Banken ihr Geld überwiegend in Staatsanleihen investiert. Drittens werden die meisten Länder wie Griechenland, Italien oder Spanien ohne eine Umschuldung nur sehr schwer von ihrem Schuldenberg runterkommen. Viertens müssen fast alle europäischen Länder zu drastischen Sparmaßnahmen greifen was die Konjunktur abschwächt. Fünftes wären die Staatsschulden bei einer Rezession zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr kontrollierbar. Sechstens würde der Ausfall einer Zahlungsverpflichtung eines EU-Landes den Finanzsektor ins Chaos stürzen. Dieses negative Szenario lässt sich nur durch richtige Wirtschafts – und Geldpolitik noch abwenden. Aber mit Angela Merkel können wir diese Hoffnung wohl aufgeben.
Viele Grüße
Simon Betschinger