Liebe Leser,
die provokative These, die Schumpeter in “Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie” aufwirft, lautet: Der Kapitalismus wird seiner inneren Entwicklungsdynamik zum Opfer fallen und einer neuen Gesellschaftsform, dem demokratischen Sozialismus weichen. Einige von Schumpeters Argumenten habe ich zusammengefasst. Sie lesen einen Auszug aus meiner Arbeit “Schumpeters Wirtschaftsmodell…“.
Schumpeter über die Zukunft des kapitalistischen Systems
Nach Abschluss seiner Arbeiten an „Business Cycles“ widmete sich Schumpeter sechs Essays, nach eigenen Angaben zur Entspannung, um diese in einem „kleinen“ Buch zu veröffentlichen. Aus diesem Plan entstand „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, sein erfolgreichstes Buch, das bis heute in über 20 Sprachen übersetzt wurde und in mehrfachen Auflagen weltweit erschienen ist. Eine Beurteilung von Schumpeters Wirtschaftstheorie wäre unvollständig, ohne auf die Konsequenzen der inneren Entwick-lungsdynamik des kapitalistischen Systems einzugehen, die Schumpeter rein wissen-schaftlich versuchte aufzuzeigen. „Kann der Kapitalismus weiterleben?“, fragt Schumpeter den Leser im Prolog seines zweiten Kapitels und gibt postwendend die Antwort: „Nein, meines Erachtens nicht!“ Seine These lautet, dass der Kapitalismus aufgrund seines radikalen Strebens nach Veränderungen zwangsweise einem anderen Wirtschaftssystem werde weichen müssen, das er als „demokratischer Sozialismus“ bezeichnet. Durch die bloße Art seines Funktionierens würde der Kapitalismus politische Bestrebungen begünstigen, „die seinem Funktionieren entgegenarbeiten.“ Wenn ein Liebhaber und intimer Kenner des kapitalistischen Systems, der sein ganzes Leben regelrecht davon besessen war, die Geschichte und Funktionsweise des Kapitalismus zu erforschen, solche Schlussfolgerungen aufstellt, sollten wir diesen Argumenten unsere Aufmerksamkeit widmen.
Der Kapitalismus ist einer ständigen „Atmosphäre der Feindschaft“ ausgesetzt. Seine Errungenschaften werden ignoriert, Unzulänglichkeiten der Gesellschaft werden ihm vorgeworfen. Jede andere öffentliche Meinung als eine Sympathie für antikapitalistische Interessen gilt als antisozial und unmoralisch. Diese Haltung ist schwer mit den objektiven Fakten zu rechtfertigen, die der kapitalistische Wachstumsmotor hervorgebracht hat. Von 1870 bis 1930 betrug die durchschnittliche Wachstumsrate der Gesamterzeugung 3,7 Prozent. Schumpeter stellte zur Veröffentlichung seines Buches die gewagte Prognose auf, als vieler seiner Zeitgenossen die große Depression als das Ende des Wachstums deuteten, dass in den kommenden 50 Jahren ein durchschnittliches Wachs-tum von 2% zu erreichen sein würde. Das verfügbare Geldeinkommen für den Konsum würde sich im Jahr 1978 ungefähr auf das 2,7-fache der Summe von 1928 belaufen. Nicht mit eingerechnet in dieser Zahl sind die zahlreichen Qualitätsverbesserungen der Güter, die sich in den Statistiken nicht widerspiegeln. Für den einfachen Arbeiter, dessen Arbeiterbudget im Zeitraum 1760 bis 1940 nicht einfach nur zugenommen, sondern auch einen „Prozess der qualitativen Veränderung“ durchlief, hat die kapitalisti-sche Revolution enorme Wohlstandsgewinne hervorgebracht: „es stehen dem modernen Arbeiter gewisse Dinge zur Verfügung über die Ludwig XIV. entzückt gewesen wäre,…, zum Beispiel die moderne Zahnbehandlung.“ Auch gibt es keine Beweise für die viel-fach unterstellte Tendenz, dass die Schere zwischen Reichen und Armen größer wird. Während der letzten hundert Jahre sind die relativen Anteile am Volkseinkommen we-sentlich gleich geblieben und sogar jegliche Hinweise fehlen dafür, dass das kapitalistische System den Prozentsatz der Arbeitslosen über die Zeit vergrößert.
Woher kommt also die allgegenwärtig spürbare Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus? Es liegt in seiner Natur begründet: „Er stellt…eine Wertordnung, eine Einstellung zum Leben, eine Kulturform dar, und zwar diejenige der Ungleichheit und des Familienvermögens“. Die Bereitstellung neuer Produkte auf den Märkten ist unweigerlich mit einem Prozess verbunden, „der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der schöpferischen Zerstörung ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muss auch jedes kapitalistische Gebilde leben.“ Jeder einzelne Konzern und jede einzelne Industrie muss „in seiner Rolle im ewigen Sturm der schöpferischen Zerstörung gesehen werden.“ Jeder Geschäftsmann und jeder Arbeiter fühlt sich dieser ständigen Bedrohung ausgesetzt. Das Eindringen einer neuen Branche oder Produktgruppe in einen etablierten Wirtschaftsraum führt zu Werksschließungen und Entlassungen. Der Schuldige dieser vielen kleinen Tragödien brennt sich in den Köpfen der Menschen fest: Das kapitalistische System. Kurzzeitige Arbeitslosigkeit, auch wenn sie vorübergeht, ist eine unausweichliche Begleiterscheinung der schöpferischen Zerstörung und sie stellt das Drohmittel dar, für das der Kapitalismus in Geisel genommen werden kann. Das soziale Versprechen die Arbeitslosigkeit zu beseitigen ist der Grund dafür, dass „die sozialistische Ordnung einen Überlegenheitsanspruch erhebt.“ Die wohlstandschaffenden Leistungen des Kapitalismus werden nur auf lange Frist sichtbar, „jedes prokapitalistische Argument muss auf langfristigen Überlegungen beruhen. Auf kurze Frist beherrschen Profit und Erfolglosigkeit das Bild….Um sich mit dem kapitalistischen System zu identifizieren, müsste der Arbeitslose von heute sein persönliches Schicksal und der Politiker von heute seine persönlichen Ambitionen vergessen.“ Die Masse denkt kurzfristig, verabscheut individuelle Unsicherheit und zeigt kaum Bestrebungen rationales Denkvermögen zu entwickeln. Die schützende Schicht, die den Kapitalismus und die langfristigen Interessen der Gesellschaft verteidigen muss, sind folglich die oberen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft.
Der Kapitalismus tendiert dazu seine schützenden Schichten einzureißen. Hauptverantwortlich dafür ist eine neue Organisationsform, die das kapitalistische System selbst hervorgebracht hat, nämlich der Großkonzern mit der Tendenz zur Mechanisierung und Bürokratisierung des technischen Fortschritts in industriellen Rieseneinheiten. „Geschulte Spezialistengruppen“ kümmern sich darum die technische Weiterentwicklung voranzutreiben, damit stetig verbesserte Produktvariationen auf die Märkte geschleudert werden. Diese „vollkommen bürokratisierte industrielle Rieseneinheit verdrängt nicht nur die kleine oder mittelgroße Firma und expropriiert ihre Eigentümer, sondern verdrängt zuletzt auch den Unternehmer.“ Schumpeter folgert daraus, dass die politische Struktur durch die Verdrängung kleiner Firmen samt ihrem Gefolgsleuten zutiefst erschüttert wird, was sich letztendlich an den Wahlurnen zahlenmäßig bemerkbar machen wird. Großkonzerne untergraben das Fundament des verantwortungsvollen Privateigetums. Der Fabrikeigentümer, der mit Herz und Blut die Mauern seiner Produktionshallen errichtet hat und bereit wäre für sein Lebenswerk zu sterben, wird vom Aktienbesitzer des Großkonzerns abgelöst. „Indem der kapitalistische Prozess ein bloßes Aktienpaket den Mauern und den Maschinen einer Fabrik substituiert, entfernt er das Leben aus der Idee des Eigentums…. Ein Eigentum, das von Person und Materie gelöst und ohne Funktion ist, macht keinen Eindruck und erzeugt keine moralische Treuepflicht, wie es die lebenskräftige Form des Eigentums einst tat.“
Mit dem Verschwinden des Unternehmers und seiner überragenden sozialen Funktion verkümmert der Kapitalismus, seinem Wesen nach ein Entwicklungsprozess, und wird durch eine stationäre Wirtschaft abgelöst, deren Profite und Zinsfüße sich „dem Nullpunkt nähern“. Der Unternehmer war in der gesamten Geschichte immer eine Füh-rungspersönlichkeit dessen Aufgabe es war, die Produktionsstruktur zu reformieren und Dinge in Gang zu setzen. Ein Großkonzern hat kein Interesse an einer Revolution der Produktionsstruktur, sondern nur an einer adaptiven Anpassung. Die Forschungstätigkeit der Großkonzerne gleicht einer Verwaltungstätigkeit. Die Angestellten werden mit Gehältern bezahlt die Leistungslöhnen gleichen und sich einzig daran orientieren wie groß oder klein das Angebot an Nachwuchsforschungskräften ist, die von den Universitäten strömen. Der Unternehmergewinn als Belohnung dafür, eine Vision gegen alle Widerstände zu verwirklichen, entfällt bei dieser automatisierten Forschungstätigkeit. Das Kernargument von Schumpeter diesbezüglich lautet: „und diese Mechanisierung des Fortschritts kann das Unternehmertum und die kapitalistische Gesellschaft beinahe ebenso stark beeinflussen, wie es das Ende des wirtschaftlichen Fortschritts täte.“ Ohne Veränderung kann der Kapitalismus nicht existieren.
Quellenhinweis: Die Zitate stammen aus “Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie” von Joseph Schumpeter.